words

Ney

Woran dachte Marschall Ney an jenem kalten Dezembermorgen, als er den sich ihm gegenüber aufgebauten Zug Soldaten sah am Platz am Observatorium? Daran, dass er solchen wie diesen immer wieder ein Vorbild gewesen war, wenn er sich allein in die Attacke stürzte? Daran, dass er einige Tausend von solchen wie diesen das Leben gerettet hatte, beim Rückzug aus Russland. Daran, dass er nicht zuletzt wegen solchen wie diesen auf die Seite Napoleons übergegangen war, den er eigentlich im eisernen Käfig nach Paris hatte zurückbringen wollen? Daran, dass sie ihn vielleicht liebten?

Der Marschall schloss für eine Sekunde die Augen. Seine Gedanken schossen ihm in irrem Rhythmus durch den Kopf und wenn ihn später tatsächlich jemand gefragt hätte, woran er in dieser Minute dachte, hätte er wohl kaum antworten können. Weil er praktisch in ein und dem gleichen Moment an die Soldaten dachte, die vor ihm standen und zusammen mit ihm gekämpft hatten, an die Marschalle, die ihn unterstützt und sich dann von ihm abgewandt hatten, an die Pairs, die das Todesurteil über ihn gesprochen hatten, an Napoleon und an jene Minuten, die er in dessen Zelt verbracht hatte, als er ihn mit der Absicht ihn zu verhaften aufgesucht hatte und das Zelt dann doch wieder dem Imperator ergeben verlassen hatte, und an die darauffolgenden hundert Tage, die Niederlage bei Waterloo, an die fünf unter ihm in dieser Schlacht erschossenen Pferde, an den da unausweichlich scheinenden Tod, der ihn dann aber verschonte, und jetzt doch zu ereilen drohte. Könnte es sein, dass auch nur einer dieser Soldaten es wagte, auf ihn zu schießen?

“Knien Sie nieder, bitte!” sagte der Zugkommandeur.
Ney verzog das Gesicht zu einem Grinsen und blickte den Kommandeur des Zugs an, dieser senkte den Kopf und wich zurück.
“Niemals”, entfuhr es dem Marschall und in Gedanken fügte er noch hinzu: “Niemals geht Michel Ney auf die Knie”. Die schwarze Binde, mit der dem Verurteilten vor der Hinrichtung die Augen verbunden werden, flatterte in der Hand des Kommandeurs im Wind – er wagte nicht, sie Ney zu reichen. Der Marschall senkte die Augen, erblickte die Binde, grinste ein zweites Mal und schüttelte den Kopf. Wie konnte man nur glauben, er werde niederknien und sich die Augen verbinden lassen? Er konnte nur stehend sterben und selbst den Befehl ihn zu töten erteilen.
Trommelwirbel setzte ein.
Die Soldaten erhoben die Gewehre. Ney hob den Kopf und blickte gen Himmel. Die Trommeln ließen sein Herz erzittern und schneller schlagen. Ney nahm mit der linken Hand seinen Hut ab und setzte sein Gesicht dem plötzlich aufkommenden kalten Wind aus. “Ist es gut, an einem trüben und kalten Wintermorgen zu sterben, oder besser an einem warmen und sonnigen Tag? Und vielleicht muss es ja doch noch nicht sein, und selbst wenn es sein muss, war mein Leben nicht umsonst und gut gelebt”.
“Soldaten, zielt auf mein Herz!”, sagte der Marschall, schaute starr vor sich hin und legte die rechte Hand auf die Brust. Er wollte plötzlich beten oder wenigstens einige Minuten denken, irgendwie sein Leben in Worte fassen, seinen Sinn, seinen Kampf, wie um sich schon einmal vorzustellen dort, wohin man ihn schickte.
Ney hob den Arm, den Hut fest in die Hand gedrückt, als gedenke er etwas zu sagen, ließ ihn dann aber schnell fallen.
“Feuer”, sagte er.
Zwölf Schüsse erschollen über dem Platz. Ney hörte, wie eine Kugel weit über ihm einschlug, dann fiel er.
Die Soldaten standen und schauten, wie der Marschall sich auf dem Boden krümmte und Blut spuckte. Nur einer von ihnen hatte vorbeigeschossen, aber auch alle anderen hatten seinem letzten Befehl keine Folge geleistet, mitten ins Herz zu schießen, so dass sie ihn nur schwer verwundet hatten.
Ney nahm seine Hand von der Brust und führte sie zu seinen im Fallen unwillkürlich geschlossenen Augen. Er öffnete seine blutverschmierten Lider und sah eine Welt, die in rote Farbe gehüllt war. Als sehe er durch eine Glasscheibe, über die rote Farbe geschüttet wurde.
Der Marschall hob unter Mühe den Kopf und sah durch dieses Glas die Soldaten, die unentschlossen und sogar ein wenig angstvoll ein paar Schritte von ihm entfernt standen. Ney verstand, dass es nicht weitergehen würde und sammelte seine Kräfte.
“Pistole”, brachte er, der kurz zuvor noch stolz und gebieterisch gesprochen hatte, heiser hervor.
Niemand bewegte sich von seinem Platz.
“Pistole”, der Marschall stützte sich auf seinen Arm und versuchte sich aufzurichten. Sein Gesicht war schrecklich verzerrt.

Der Kommandeur zuckte zusammen und schritt zu ihm hin, aber der der Hinrichtung beiwohnende Graf de Rochechouart hielt ihn mit einer Handbewegung zurück. Er umfasste sich mit der Hand um die Schulter, als versuche er ein Zittern zu bändigen, und drehte sich um. Der Graf schaute auf Marschall Ney, und in seinem Gesicht war keinerlei Ungeduld zu erkennen.
Aber Ney sah ihn nicht. Ney schaute auf die vor seinen Augen verschwimmenden Gesichter der Soldaten. “Sie haben also doch geschossen”, dachte er, “doch geschossen. Aber nicht ins Herz. Sie lieben mich also doch.” Seine Gedanken verschwammen, die Kräfte verließen schließlich den Marschall, sein Arm knickte ein  und er fiel auf die Seite. Sein Gesicht war auf das Pflaster gepresst und er erstummte. Er erstummte, um zu zeigen, dass er bereit war, den Tod zu empfangen.
Aber der Tod hatte es nicht eilig zu ihm. Ihm schien plötzlich, dass die Soldaten und alle hinter ihnen stehenden auf dem Platz Anwesenden vor ihm niederknieten. “Lasst”, flüsterte Ney, der keine Kraft fand sich aufzurichten, “klagt euch nicht an. Alles ist richtig.” Er versuchte zu winken, die Zeugen der Hinrichtung sahen des Marschalls letztes Zucken. Und Marschall Ney starb.

Translated by Lars Nehrhoff

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