words

Judas

1

Ein endloser Raum tat sich auf. Und seine leibliche Hülle hinter sich lassend schlug er sich durch den Tränenschleier vor seinen Augen den Weg zur Reinheit des Sehens, zur lockenden Unendlichkeit, zu sich selbst. Und sein Name war Judas.

Es war noch nicht lange her, dass er sich feierlich und gebieterisch, aber auch erstaunlich sanft gezeigt und in Judas’ Seele das Korn des Zweifels gepflanzt hatte, das schon zahllose Würdige ins Verderben stürzte. Was sollte man da von Judas erwarten?

Judas glaubte ihm nicht, nein, er hörte ihn lediglich an, versuchte, sich ihm zu nähern, ihn zu berühren, ihm in die Augen zu schauen. Zunächst voller Demut, dann immer kühner, bis Judas ihn schließlich umarmte und annahm. Aber die Zweifel ließen von Judas nicht ab bis zum Tod.

“Warum lässt du uns zweifeln? Warum bereitest du Unschuldigen Pein?”, fragte Judas und lief ihm, die Worte noch in den Staub spuckend, sogleich hinterher. Und fragte wieder und ging, und tanzte, wohlwissend, ihn halten zu müssen, um ihn herum.

“Diene”, sagte sich Judas und ward gehorsam,

“Geh fort”, rief Judas, tat ein paar Schritte zur Seite und schimpfte ihn mit groben Worten.

“Liebe”, sprach Judas und hielt als Liebesbeweis einen Finger über die Kerze.

“Töte”, sprach Judas, legte erschrocken die Hand auf den Mund und warf sich weinend zu Boden.

So gingen die Tage und Nächte dahin und Judas fand keine Ruhe, keinen Ort außer an seiner Seite. Judas schüttelte es vor dieser Nähe, Judas umschlang seine Beine und erbrach sich auf seine Sandalen. Judas war von Glück erfüllt. Judas fühlte sich elend wie niemals zuvor.

“Ist es noch weit?”, fragte Judas.

“Ich kann nicht mehr”, sagte Judas. Und war doch im nächsten Moment bereit, ihm bis ans Ende der Welt zu folgen. Judas fiel ihm um den Hals und drückte ihm einen feurigen Kuss auf die Lippen. Judas warf einen Stein nach ihm, um ihm den Kopf zu zertrümmern, aber die Hand führte den Stein an ihm vorbei. Dann nahm Judas Dreck von der Erde, lief zu ihm hin und schmierte ihm diesen Dreck ins Gesicht. Und lachte, den Finger auf ihn gerichtet. Und ging dann verächtlich lächelnd vor ihm auf die Knie.

Neue Städte kreuzten den Weg. Städte, die Judas nicht kannte. Und Leute: Gute und Böse, Frohe und finster Gestimmte, Glaubende und nicht Glaubende, aber Erlöste. Von Judas Zweifeln Erlöste. Judas sah dies frohlockenden Herzens.

Einmal, als Judas mal wieder von ihm fortging, traf Judas zwei Brüder. Petrus und Andreas saßen am Wegesrand, die Arme um die angewinkelten Beine geschlungen.

“Warum arbeitet ihr nicht?”, fragte Judas.

“Gib uns Geld und wir werden arbeiten. Gib uns Gott und wir werden glauben”, gaben die Brüder zur Antwort.

“Ich gebe euch Geld”, sagte Judas, “und ihr tötet dafür jenen Mann dort.”

“Nein”, entgegnete Petrus, aber in Petrus’ Augen zeigten sich Zweifel.

“Wie viel?”, fragte Andreas.

“Was soll es denn eurer Ansicht nach kosten?”, fragte Judas zurück.

“Keine Ahnung”, sagte Petrus.

“Tausend Silberlinge”, sagte Andreas.

“Soviel habe ich nicht”, sprach Judas und setzte sich neben sie. “Ich werde euch später bezahlen.”

“Nein”, schüttelte Petrus den Kopf.

“Wann?”, fragte Andreas.

“Morgen”, sagte Judas.

“Ich bin dabei”, sagte Petrus.

Judas und Andreas schauten verwundert auf Petrus.

“Lass es, Bruder”, sprach Andreas und legte Petrus die Hand auf die Schulter.

“Lebt wohl”, sagte Petrus und erhob sich.

Judas und Andreas schauten sich an.

“Was soll das?”, fragte Judas’ Blick.

“Das ist Schicksal”, antwortete der Blick des Andreas.

“Bleib stehen”, sagte Judas zu Petrus. “Ich werde mit dir gehen.”

“Um sicher zu gehen?”, fragte Andreas vom Boden aus.

Judas blieb stumm und folgte Petrus.

“Wohin gehst du?”

“Zu ihm.”

Judas bückte sich, hob einen Stein vom Boden und holte aus, um Petrus zu schlagen. Petrus schaute unter Tränen auf Judas und streckte die Hand aus.

“Jetzt bist du mein Bruder, Judas.”

“Und du bist mein Bruder, Petrus.

Petrus nahm Judas den Stein aus der Hand und warf den Stein fort.

Er ging langsam, der Weg führte bergan. Er musste oft innehalten, die Hände auf seine Knie legen und schwer atmen, den Blick auf den Boden gerichtet. Dann nahmen ihn Petrus und Judas bei den Armen, Andreas an den Beinen und so trugen sie ihn, trugen ihn, bis er ihnen mit stummer Geste gebot, ihn auf den Boden zu lassen. Er nickte, vielleicht zum Zeichen der Dankbarkeit, vielleicht weil sein Kopf automatisch herunterklappte, als seine Füße den Boden berührten.

Und er schritt wieder voran, Petrus ihm hinterdrein, dann Andreas, und schließlich der zweifelnde Judas. Judas, der Ruhelose. Judas, der keinen Platz für sich fand.

Judas wagte schon nicht mehr, an ihn heranzutreten und ihn zu umarmen, wagte nicht, von ihm weg tretend die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Judas sprach nur hastig Worte der Liebe oder des Fluchens und wirbelte mit den Sohlen seiner Sandalen den Staub von der Straße auf.

Und wieder Städte und wieder Leute. Petrus blickte sich beflissen um und stellte sich schützend vor ihn. Andreas hielt reine und klare Reden. Judas ballte vor Furcht die Fäuste in seinen Taschen. Und so ging es von Stadt zu Stadt, von Tag zu Tag.

Die Landschaft um sie herum war einfach und karg. Sand und Schatten der Bäume. Die Gegend glich einer Wüste, und manchmal ließ Judas den Blick von ihm ab, um sich voller Sehnsucht nach allen Seiten umzuschauen. Petrus und Andreas schauten sich ebenfalls um, aber in ihren Gesichtern war keine Emotion wie im Gesicht des Judas.

“Wer ist das?”, fragte Petrus auf einmal.

“Soldaten”, sagte Andreas.

Sie mussten halten. Die Soldaten umringten sie pfeifend, ließen ihre Pferde sich bäumen, zerschnitten die Luft mit ihren Peitschen, und ließen auf seine wunderbaren und verhassten Ohren Tiraden niederprasseln.

“Was wollen sie?”, fragte Petrus.

“Geld”, sagte Andreas.

“Wir haben kein Geld”, rief Petrus, “nicht das kleinste Bisschen. Wir sind arme Wanderer. Wir haben Hunger. Wir sind verstoßen. Schenkt uns Glauben. Habt Gnade mit uns.”

Die Soldaten schlossen sich zu einem Kreis, wie um ein Opfer zu wählen.

“Du irrst dich”, sagte Judas. “Es ist nicht Geld, was sie suchen.”

“Was sonst?”, fragte Petrus.

“Uns”, sprach Andreas.

“Ihn”, sagte Judas.

Petrus öffnete den Mund, um neuerlich loszuschreien.

“Matthäus”, rief Judas, “Thomas, Philipp. Kommt alle her.”

Judas lief zwischen den Soldaten umher und rief ihre Namen. Und auch Petrus und Andreas liefen wild umher, schlugen die Hände zusammen und riefen mit vielen Stimmen. Die Soldaten wichen zurück und schauten sich um.

“Wie viele seid ihr?, fragte der Anführer der Soldaten.

“Viele”, rief Petrus.

“Zwölf”, sagte Judas.

Der Anführer peitschte das Ross und von den hinter einer Wegbiegung verschwundenen Soldaten blieb nur eine Wolke Staub, die sein Gesicht grau werden ließ. Aber dieses Mal lachte Judas nicht los. Judas trat an ihn heran, erstmals in diesen Tagen, die sie zu viert unterwegs waren, nahm einen sauberen weißen Lappen aus der Tasche und wischte ihm fürsorglich das Gesicht. Er nickte schweigend. Vielleicht senkte sich auch nur sein Kopf vor Ermattung. Judas nahm ihn bei der Hand und setzte ihn auf den Boden. Petrus und Andreas setzten sich neben sie.

“Wer sind diese Leute, die du riefest?”, fragte Petrus.

“Ja, Judas, wen hast du gerufen?”, fragte Andreas.

“Das seid ihr”, sagte Judas.

“Wir?”, fragte Petrus verwundert.

“Das verstehe ich nicht”, sagte Andreas und breitete fragend die Arme aus.

“Nicht wir”, sagte Judas, “sondern ihr”.

Judas zeigte mit dem Finger auf einen jeden: “Petrus, Andreas, Judas. Die mit ihm gehen.”

“Nein Judas, es waren andere Namen, die du nanntest, nicht unsere.”

“Ja, andere.”

“Wessen?”, fragte Petrus und trat ganz nah an Judas heran. “Du verheimlichst uns etwas, Judas.”

“Hört”, sagte Andreas, “die Soldaten kommen zurück.”

“Das kann nicht sein”, sagte Petrus und vergrub das Gesicht in den Händen.

Hufgeklapper war in der Ferne zu hören, von dort, wo die Soldaten verschwunden waren. Geklapper, das in der Luft hing wie Glockengeläut. Er stand auf und blickte den Reitern entgegen. Schließlich kamen die Soldaten heran und hielten in zehn Schritt Entfernung. Er stand regungslos da. Petrus saß immer noch, das Gesicht in den Händen vergraben. Andreas versuchte aufzustehen, doch die Beine gehorchten nicht und Andreas erhob sich nur leicht aus dem Straßenstaub. Judas hob den Kopf und blickte die Reiter voll Neugier an.

“Du hast uns gerufen”, sagte der Anführer.

Er nickte.

“Ich bin Matthäus”, sagte der Anführer, “Das sind Thomas, Philipp, Jakob, Bartholomäus, Jakob, Thaddäus, Johannes und Simon.”

“Neun”, sprach Andreas.

Petrus nahm das Gesicht aus den Händen.

“Woher kanntest du sie, Judas?”

“Habe ich sie etwa gekannt?”, fragte Judas.

“Du hast sie beim Namen genannt.”

“Das war nicht ich, der sie nannte”, gab Judas kopfschüttelnd zur Antwort. “Da irrst du dich, Petrus.”

“Ich bin Petrus”, sagte Petrus den Häschern. “Das sind Andreas und Judas.”

“Nehmt diese Pferde”, sprach, Matthäus, sprang aus dem Sattel und gebot Thomas, Bartholomäus und Thaddäus dem Beispiel zu folgen. “Ihr seid müde. Steigt auf. Wir führen die Pferde am Zügel.”

Er stieg aufs Pferd. Petrus und Andreas, der wieder Kraft in den Beinen verspürte, taten ihm gleich. Judas regte sich nicht.

“Warum steigst du nicht auf, Judas?”, fragte Thomas.

“Wir müssen nur ein Pferd behalten”, sagte Judas. “Nur eins.”

“Warum?”  

Judas zuckte die Schultern.  

“Was hast du dir bloß wieder ausgedacht, Judas?”, fragte Petrus.

“Warum willst du nicht, dass wir reiten? Wir sind erschöpft und so ist es leichter.”

“Bist du müde?”, fragte Judas. “Wovon bist du denn müde, Petrus?”

“Wir sind lange gelaufen.”

“Sein Weg ist länger”, sagte Judas und zeigte auf ihn.

“Aber wir haben doch  Pferde genug, Judas. Warum willst du nicht, dass wir reiten?”, fragte Petrus erneut.

“Wenn du reiten willst, kannst du reiten”, sagte Judas und winkte ab. 

“Dann reite ich”, sagte Thomas. “Wenn Judas nicht will.”

Judas verzog das Gesicht zu einem Grinsen.

“Ich werde gehen”, sprach Philipp, gab dem Pferd einen Klaps und jagte es fort.

“Jetzt bin ich ohne Pferd.”

“Und auch ich bin ohne Pferd”, sprach Simon und folgte dem Beispiel.

“Das verstehe ich nicht”, sagte Petrus.

Schon bald blieben nur er und Petrus auf dem Pferd. Die anderen standen wie Judas am Boden, bereit ihren Weg zu Fuß fortzusetzen. Er stieß seinem Pferd sanft mit dem Fuß in die Seite und bewegte sich langsam fort. Elf Fußgänger setzten sich ihm hinterdrein in Bewegung.

“Ich verstehe das nicht”, rief Petrus erneut.

Niemand drehte sich um. Und da sprang auch Petrus vom Pferd. Petrus ging langsam, dann schneller und hatte die anderen bald eingeholt.

“Ich verstehe”, sprach Petrus.

“Hast du Zweifel?”, fragte Petrus den Thomas.

“Nein”, entgegnete Thomas.

Thomas Antwort vernehmend, seufzte Judas erleichtert auf.

“Du zweifelst nicht, dass ich verstehe oder dass ich nicht verstehe?”, ließ Petrus nicht ab.

“Lass mich in Ruhe, Petrus”, sagte Thomas.

“Andreas”, rief Petrus.

“Lass mich in Ruhe, Petrus”, sagte Andreas.

“Matthäus”, rief Petrus.

“Lass mich in Ruhe, Petrus”, sagte Matthäus.

“Judas”, rief Petrus.

“Ja, Petrus”, ließ sich Judas vernehmen, “komm her und ich umarme dich, Bruder.”

Judas umarmte Petrus, Petrus drückte sich an Judas, legte den Kopf auf Judas’ Brust, und so gingen sie weiter, bis es dunkelte und die Zeit kam, Nachtruhe zu halten.

2

Nachts träumte Andreas, dass Andreas’ und Petrus’ Vater gestorben sei.

Morgens, als sie die Reste des Essens verspeisten, das sich bei den einstigen Soldaten gefunden hatte, stand Andreas auf und trat an ihn heran.

“Der Vater von Petrus und mir ist gestorben. Das habe ich heute im Traum gesehen.”

“Wie?”, Petrus sprang auf, vergrub das Gesicht in den Händen und fing an zu weinen.

“Wir müssen umkehren”, sprach Andreas, “um von unserem Vater Abschied zu nehmen.”

“Wir warten auf euch”, sagte Matthäus. “Wir gehen langsam weiter. Ihr holt uns schnell ein.”

Andreas und Petrus hatten zu weinen aufgehört und schauten zu ihm. Er erhob sich vom Boden, warf die Reste des Frühstücks den Vögeln hin und schaute auf Petrus und Andreas. Dann drehte er sich um und ging langsam seines Weges. Auch Judas erhob sich und ging ihm nach.

“Judas”, rief Petrus.

Judas drehte sich um. Alle schauten auf Judas.

“Mögen die Toten ihre Toten begraben”, sprach Judas, wandte sich ab und folgte ihm, ohne sich noch einmal umzublicken.

“Was wolltest du sagen, Judas?”, fragte Petrus, als Judas eingeholt war.

“Habt ihr das Pferd behalten?”, fragte Judas.

“Andreas ist auf dem Pferd weggeritten”

“Und du?”, fragte Judas grinsend.

“Ich nicht”, sagte Petrus.

Thomas, der rechts von Petrus ging, legte Petrus die Hand auf die Schulter. Matthäus, der links von Petrus ging, folgte dem Beispiel. Und so gingen sie weiter, bis sie in ihrem Rücken Hufgeklapper vernahmen.

Andreas sprang vom Pferd und gab es ihm. Er setzte sich auf das Pferd und stieß das Pferd sanft mit den Absätzen seiner Sandalen in die Seite.

“Ihr seid meine Familie”, sagte Judas.

“Ihr seid mein Vater”, sagte Judas.

“Ihr seid meine Kinder”, sagte Judas, den Blick auf Andreas gerichtet.

Andreas senkte den Kopf und ging, ohne ein Wort zu sagen, mit den anderen zusammen. Bartholomäus und Simon legten Andreas die Hand auf die Schulter wie Thomas und Matthäus es kurz zuvor bei Petrus getan hatten. Und so setzten sie ihren Weg fort, schauend wie die Sonne am Himmel vorbeizog und auf ihn herabschien.

Zum Abend hin zog ein Gewitter auf. Schwüle erfüllte die Luft. Judas spürte mehr und mehr das Verlangen, sich die Brust zu entblößen, und riss sich fast die Kleider vom Leib. Schon seit einigen Stunden hatte Unruhe Judas ergriffen. Judas versuchte, den Schritt zu beschleunigen, um die peinigenden Gedanken zu vertreiben. Judas verspürte Unruhe und Furcht, spürte, den Antworten nicht gewachsen zu sein, die im Innersten drängten. Judas schaute sich um, versuchte jemanden zu finden, und war zugleich von dem drängenden Wunsch erfüllt, allein zu bleiben. Allein mit Judas.

Nach und nach drosselte Judas den Schritt, ließ die anderen an sich vorbeiziehen und ging schwer atmend, mit den Sandalen den Weg pflügend, als letzter. In Judas’ Kopf vermengten sich ein absolut klares Bewusstsein und ein Gefühl von Verlorenheit. Judas verstand nicht, wohin, warum und sogar wo Judas ging. Immer wieder schaute Judas sich um, schaute auf den Boden unter den Füßen, wie auf der Suche nach etwas. Judas erinnerte sich nicht, wie Judas vor nicht einmal einer Minute gegangen war. Aber in Judas’ Kopf zeichnete sich ein klares Bild des höheren Sinns von Judas’ Existenz ab. Es war wie eine Erleuchtung, wie ein höheres Glück, unerreichbar in den einfachen Augenblicken von Judas’ Leben.

Einmal fand Judas sich mitten auf dem Weg sitzend. In Judas’ Gesicht strahlte ein seliges Lächeln. Elf nichts verstehende Augenpaare schauten aus der Zukunft auf Judas. Judas erhob sich und ging zu ihm hin.

Kaum hatte Judas die wartenden Brüder erreicht, fiel Judas auf die Knie. Ein gellender Schrei entfuhr Judas’ Brust. Es schien, als schreie ein anderer als Judas aus Judas. Es schien nicht einmal ein Mensch zu sein, der aus Judas schrie, sondern der Dämon selbst. Petrus, Andreas, Matthäus, Thomas, Philipp, Jakob, Bartholomäus, Jakob, Thaddäus, Johannes und Simon wichen vor Judas zurück. Judas’ Gesicht verzerrte sich. Judas’ Augen erstarrten. Schaum quoll aus Judas’ Mund. Judas fiel auf den Rücken und wand sich in Krämpfen.

Er ging vor Judas auf die Knie, hob Judas’ Kopf an, nahm aus der Tasche das Tuch, mit dem Judas ihm sein staubbedecktes Gesicht abgewischt hatte, ballte es zusammen und legte es Judas zwischen die Zähne. Er saß bei Judas, bis der Anfall vorüber war und Judas in seinen Armen zur Ruhe kam.

Das war der erste epileptische Anfall, den Judas erlitt, seit Judas mit ihm ging. Der erste und nicht der letzte.

Am Abend entlud sich das Gewitter. Donnerschläge grollten ohrenbetäubend nieder, Blitze blendeten, und sie mussten sich mit den Händen vor den Lidern vor dem durchdringenden Licht schützen. Regen schlug gnadenlos nieder. Er suchte Schutz unter einem einsam inmitten des Feldes stehenden Baum und alle scharten sich um ihn. Nur Judas, der nach dem Anfall wieder zu sich gekommen war, stand mit ausgebreiteten Armen im Regen, den Kopf zum Himmel erhoben.

“Komm zu uns, Judas”, rief Petrus.

Judas reagierte nicht auf das Rufen.

“Judas”, rief Petrus erneut, “komm her. Mein Bruder und ich haben hier einen guten Platz unter dem Baum gefunden. Hier ist fast kein Regen.”

Judas schaute auf Petrus und funkelte in der Dunkelheit mit den Augen.

“Du hast keinen Bruder mehr.”

“Natürlich”, rief Petrus, der die Worte den tosenden Elementen zum Trotz vernommen hatte,.”Auch du bist mein Bruder, Judas. Wir alle sind Brüder.”

“Du hast keinen Bruder, du hast keinen Vater, und auch keine Mutter. Du hast niemanden. Nur er ist bei dir, Petrus. Nur er.”

Es war, als habe das Schicksal selbst Judas’ Worte durch das Gewitter zu Petrus getragen. Petrus erbleichte und griff nach Andreas. Petrus schaute voll Schreck auf Judas’ aus der Dunkelheit hervortretende Silhouette. Und es schien Petrus, dass sich Judas zu riesiger Größe gewachsen über dem Baum erhob, der ihnen Schutz vor dem Regen bot,  über das Feld und über Petrus. Petrus schien, dass Judas die Hand ausstreckte, um Petrus zu greifen und dorthin zu führen, wo jeder mit ihm und sich selbst allein war. Und dort sollten keine vertrauten Gesichter sein, keine Worte und keine Gefühle. Es gibt keine Familie, keine Hilfe. Nur ihn, der sich Petrus jetzt in diesem riesigen schrecklichen Judas vorstellte. In diesem unbarmherzigen Engel.

Petrus schaute sich um. Petrus schaute hilfesuchend auf ihn. Er richtete seinen Blick auf Petrus, oder warf einfach einen Blick auf alle, die sich an ihn drückten, erhob sich von seinen Knien und trat unter dem Baum hervor. Judas stand mitten auf dem Feld und lachte schallend, den Kopf nach hinten geworfen. Plötzlich hob er die Hand. Als Judas den Blick senkte, sah Judas, dass er an einem dicken Ast hing und unter den Windstößen hin und her baumelte.

Judas trat einen Schritt zurück.

Alle, die unter dem Baum geblieben waren, hielten den Atem an, und schauten auf ihn. Als sie nach einiger Zeit wieder zu sich kamen, sahen sie, dass er sich schon von ihnen entfernt hatte und seinen Weg fortsetzte.

Petrus lief als erster hinter ihm her, und küsste ihm, als er ihn eingeholt hatte, die Hand. Hinter Petrus lief Matthäus heran, und auch alle anderen liefen heran, um ihm die Hände zu küssen. Alle, nur Judas nicht. Er blieb stehen und strich jedem Küssenden über den Kopf. Dann drehte er sich um und ging weiter.

“Und was ist mit mir?”, fragte Judas.

“Wen fragst du?”, wunderte sich Judas.

“Mich selbst”, gab Judas zur Antwort und schaute aufmerksam auf den im Orkan schwankenden Baum. Judas schien es, dass der Baum jeden Augenblick falle und nichts bleibe. Aber der Wind ebbte ganz plötzlich ab, der Regen hörte auf, und nur dicke Tropfen liefen Judas noch immer das Gesicht herab.

3

Mein Glaube. Erlöst du von allen Zweifeln und Qualen, die mich überkommen? Bist du stark und unabhängig genug, um später nicht nichtig und nutzlos zu scheinen? Lohnst du meine Zeit und meine Kraft? Wird dieser Weg nicht später falsch und irreführend erscheinen? Von Wahrheit und Sinn fortführend?

Ich stehe an der Gabelung unzähliger Wege. Wähle ich den Weg zu dir, oder hilfst du mir, den Weg zu wählen? Ist der Sinn in dir? Gibst du den Sinn oder leuchtest du nur wie ein Leuchtturm den Weg? Leuchtest du meinen Weg? Und ist vielleicht jeder Weg ein Weg zu dir? Bist du der Wegbegleiter oder das Ziel?
Ich träume. Ich stelle mir alles nur vor. Ich weiß, was in meinem Inneren ist. Und ich frage: Bist du das Gewünschte oder das Existente? Das Unerreichbare oder das Offene? Und wenn du offen bist, dann für wen?

Mein Glaube, wirst du geprüft oder prüfst du? Bewertest du mich? Und wenn dem so ist: Bist du eine unabhängige Substanz der Welt oder erschaffe ich dich? Bin ich es selbst, der dich mit seinen Händen ausmalt, dir eine Form gibt und dich mit Inhalt füllt?

Kämpfe ich um dich oder mit dir? Und wenn ich vor der Schlacht auf die Knie falle, befehle ich mich dir an, erwarte ich von dir Hilfe oder hoffe ich, dich zu erobern? Und wenn dem so ist: Bist du gefügig? Oder wirst du gefügig?  

Mein Glaube. Bist du mein Glaube? Nur meiner oder einer für alle? Und hast du Stufen? Eine Leiter der Nähe, auf der wir konkurrieren und die anderen mit dem Ellenbogen wegstoßen, die Zähne zusammenbeißend verbissen nach oben schauend? Oder ist diese Leiter ruhig und leer, weil sie ganz allein mir gehört? Und die anderen streben auf ihren eigenen Leitern nach oben, und fallen wie ich, die Köpfe verbergend und die blutigen Ellbogen in die Seite gestemmt, aber unsere Schreie erreichen einander nicht? Oder gibt es vielleicht gar keine Leiter? Und all dies ist bloß Ausgeburt eines kranken Verstands?

Widersprichst du der Ratio? Widersprichst du der Logik? Der Realität? Und wenn ja, dann warum? Wozu? Das macht alles doch nur komplizierter? Oder muss es so sein?

Es muss wohl so sein. Bist du nun also innen oder kommst du von außen?

Mein Glaube. Du bist eher unaufdringlich. Du bist nicht sehr hartnäckig. Du bist launisch und wechselhaft. Ich muss dich fangen und fest an die Brust drücken, sonst flutscht du mir aus den Händen. Oder reißt dich mir jedes Mal wer aus den Händen? Ich stürze mich mit dem ganzen Körper auf dich und halte dich fest. Und am nächsten Tag wache ich auf und der Platz in meinem Innern ist leer.  

Mein Glaube. Niemanden kann man nach dir fragen. Mit niemandem kann man über dich sprechen. Niemand kennt dich besser als ich selbst. Und das macht die Einsamkeit nur noch größer. Macht sie schrecklich. Wie es wahrscheinlich schrecklich ist, mitten auf hoher See in einem lecken Boot zu sitzen oder mitten in der Wüste den letzten Wassertropfen aus dem Schlauch zu trinken.

Und brauche ich dich eigentlich wirklich so sehr? Du zeigst nichts und erklärst nichts. Du kommst einfach, und ich kann nichts machen. Kann nur hoffen, dass ich dich selbst geschaffen habe, mit meinen Händen, als Willensakt und Vorstellung von mir selbst. Als Vorstellung von der Bedingtheit der Welt. Ich habe dich womöglich geschaffen, unbewusst an dich glaubend, mein Glaube.

So dachte Judas auf dem Boden liegend, die Hände unter den Kopf gelegt und den sternenbehangenen nächtlichen Himmel betrachtend. Das Gewitter war vorübergezogen, und nur die Feuchte war im Boden geblieben, auf dem Weg, auf dem sie gerade noch gegangen waren, auf den Ästen und Blättern der sich am Wegrand erhebenden Bäume, auf den Stängeln der für die kommende Nacht schon bereiten Gräser und Blumen. Und diese Feuchte übertrug sich auf die groben Sohlen der Sandalen, auf die Knie und die Kleidung jener, die wie Judas lieber lagen. Die Feuchte durchtränkte die Natur um sie herum. Und um sie herum blieb kein Ort, der von den Tränen des Himmels trocken war. Von den Tränen des kommenden Tages.

4

Am Morgen trat Petrus an Judas heran und schaute sich um, wie um nicht bemerkt werden zu wollen. Trat heran und ergriff Judas’ Hand.

“Hast du es gestern gesehen, Judas?”, fragte Petrus flüsternd.

“Was soll ich denn gesehen haben, Petrus?”

“Den Himmel”, sprach Petrus, die Hand auf den Mund gelegt. “Und den Stand der Sterne?”

“Da stand die Zahl Drei”, sagte Petrus und blickte sich erschrocken um. “Und er hat mich gestern genau drei Mal angeschaut.”

“Ja”, sagte Judas und erhob sich vom Boden. “Drei Mal.”

“Was?”, fragte Petrus und schaute unterwürfig auf Judas.

“Drei Mal wirst du ihn verleugnen.”

“Das kann nicht sein.”

“Warum?”, fragte Judas und schaute Petrus aufmerksam an, verwundert und zugleich erfreut ob der Antwort.

“Ich liebe ihn doch.”

“Du liebst ihn?”

“Ja”, sagte Petrus mit zitternder Stimme.

“Mehr als dich selbst? Mehr als die Deinen? Mehr als uns alle?”

Petrus nickte und schluckte.

“Dann musst du ihn verraten. So verrätst du uns, und zeigst dadurch deine Liebe zu ihm. Und bekommst mehr als du jetzt hast.”

“Wie das?”

“Mehr Brüder, mehr Väter, mehr Mütter, mehr Kinder. Denn jeden, der dir im Glauben nahe ist, kannst du Bruder nennen, jeden, der im Glauben über dir steht, Vater oder  Mutter, und jeden, den du zum Glauben führst, Sohn. Wofür brauchst du echte Verwandte? Sie sind wenige und sie versündigen sich gegen dich. Und sie stehen dir im Weg, Petrus.”

“Ich kann nicht”, sagte Petrus noch einmal. “Ich weiß nicht.”

“Fürchte dich nicht”, sagte Judas, die Hand auf Petrus’ Schulter gelegt. “Wenn die Stunde kommt, wirst du wissen, was zu tun und zu sagen ist.”

“Von wem?”, fragte Petrus.

“Von ihm”, gab Judas zur Antwort.

Gesenkten Hauptes schritt  Petrus fort. Judas schaute Petrus nach, um den Mund ein böses Grinsen.

Am Tag kreuzte ein Wanderer ihren Weg. Ein Greis, dessen unter alten Kleidern entblößte Beine Geschwüre bedeckten. Auf einen krummen Stock gestützt, streckte der Alte ihnen fröhlich die Hand entgegen, wich aber, sein Gesicht erblickend sofort zurück. Sie eilten herbei und scharten sich um den Wanderer. Und nur er hielt sich fern, die Hand ausgestreckt, sei es zum Kuss oder in der Luft gestikulierend zwischen ihm und dem Alten.

Der Greis tat ihnen kund, dass um sie herum schreckliche Morde geschahen. Dass man die neun Soldaten, die die Ihren verlassen hätten, um mit den aus der Ferne kommenden Wanderern umherzuziehen, suche und töten wolle. Und solange sie nicht zu finden seien, töte man alle Männer in ihrem Alter. Die Länder, durch die der Greis gezogen sei, erfülle Wehklagen und Weinen. Und während der Alte zitternd erzählte, liefen Tränen über die zerfurchten Wangen des Alten.

Alle scharten sich um den Greis. Einer gab Wasser zu trinken, einer hüllte die mageren Schultern in Kleider, einer spendete zärtlich Trost und streichelte den Wanderer. Alle dachten nur an den Alten, kümmerten sich nur um den Alten, und nicht um sich selbst und den drohenden schrecklichen Tod. Nur Judas tat nichts und stand sinnend da.

“Sind es die Soldaten, die sie suchen und töten wollen”, fragte Judas schließlich. “Oder die Wanderer, mit denen sie ziehen?”

Der Greis hob den Kopf und schaute auf Judas.

“Ich habe gehört, sie suchen nur einen. Und diesen einen wollen sie töten. Einen, mit dem die Häscher ziehen und auch die Wanderer. Und alle hier werden getötet, denn unter ihnen könnte ja er sein.”

“Ja ist das denn möglich”, rief Matthäus, “so viele Unschuldige zu opfern, bloß um den einen zu retten?” Matthäus schrie, senkte den Kopf und schämte sich seiner Worte.

“Möchtest du ihn verraten, Matthäus?”, fragte Judas.

Matthäus gab keine Antwort.

“Aber es darf doch nicht das Leben eines einzigen Kindes geopfert werden, um die Menschheit zu retten”,sagte Bartholomäus.

“Möchtest du ihn verraten, Bartholomäus?”, fragte Judas.

Bartholomäus gab keine Antwort.

“Und was ist mit euch?”, schrie Judas auf.

“Lebt wohl”, sprach der Greis.

Der Greis trat an ihn heran, kniete nieder und küsste den Saum seiner Kleidung. Seine Hand blieb erhoben, und der Wanderer berührte auch sie mit den Lippen, erhob sich und entschwand, ohne sich umzudrehen, in ihre Vergangenheit. Alle schauten der sich entfernenden Gestalt nach. Niemand sagte ein Wort.

Als der Greis nur noch ein kleiner weißer Fleck in der Ferne war, drehten sie sich um und schauten auf ihn . Matthäus fiel auf die Knie. Bartholomäus tat es Matthäus gleich. Sie hoben die Hände zum Himmel und schluckten, den Boden mit ihren Mündern berührend, den Straßenstaub. Bald taten die anderen es ihnen nach. Nur Judas stand teilnahmslos da und warf spöttische Blicke auf ihn. Und er schaute auf Judas oder auch bloß in die Ferne.

Schließlich erhoben sich alle vom Boden.

“Also was ist nun wichtiger?”, wandte sich Judas an Matthäus.

“Er”, gab Matthäus zur Antwort.

“Und was ist mit der Rettung der Menschheit?”, fragte Judas Bartholomäus.

“Sündig”, schrie Bartholomäus und wollte erneut auf die Knie fallen, aber Judas fasste Bartholomäus am Arm, um dies zu verhindern.

“Es reicht”, sagte Judas. “Du hast dich genügend erniedrigt. Fang jetzt mit dem Denken und Handeln an.”

Bartholomäus senkte den Kopf und sprach bis zum Ende des Tages kein Wort.

“Wer nicht mit ihm ist, der ist gegen ihn”, sagte Judas noch und ging voran, ohne sich umzublicken. Und alle anderen folgten Judas. Und als Letzter auch er.

So gingen sie bis tief in die Nacht, und Judas hielt nicht zur Nachtruhe an, selbst als es schon völlig dunkel war. Judas schritt stur voran, als solle ein Ort schnell erreicht werden, der nur Judas bekannt war. Und er ging neben ihm. Hinten fiel Petrus, aber Andreas und Simon hoben Petrus auf. Petrus verfluchte den Bruder und erhob die Hand gegen den Bruder. Aber Andreas und Simon trugen Petrus. Und dann Thaddäus und Jakob, Bartholomäus und Thomas, und Philipp und der andere Jakob. Und Matthäus und Johannes schritten Arm in Arm, um leichter gehen zu können. Und so schritten sie alle hinter ihm und Judas und unterschieden in der Dunkelheit schon nicht mehr, wer wer war, denn sie waren ähnlich an Wuchs, Gestalt und Länge der Haare.

Gegen Morgen sahen sie vor sich die große Stadt. Dann versagten den Tragenden die letzten Kräfte. Andreas und Thomas fielen zu Boden. Und auch Philipp. Und dann auch alle anderen. Judas warf nur einen Blick auf die Stadt und fiel auch. Er ließ sich auf einem Stein am Wegesrand nieder und betrachtete reglos die Schlafenden. Dann stand er auf und ließ sie zurück.

5

Am Tag kamen Soldaten und zogen schweigend einen Kreis um die Schlafenden. Ihr Zenturio Rattenschläger schaute auf die erschöpften Gesichter und setzte ein unheilverkündendes fröhliches Grinsen auf. Der Zenturio musterte eingehend einen jeden von ihnen, wie um ergründen zu wollen, wen zu ergreifen die Kämpfer geschickt worden waren.  

Schließlich gab Rattenschläger ein Zeichen, einer der Soldaten hob einen schweren Stein vom Boden auf und warf diesen Stein mit aller Kraft in Petrus’ Gesicht. Petrus schrie auf , war sofort wach und fasste mit der Hand das zerschlagene Gesicht. Rattenschläger gebot Petrus heranzutreten. Petrus kroch unterwürfig heran und setzte sich stöhnend, das Gesicht noch immer in den Händen vergraben.

“Weißt du, wen zu finden wir hier sind?”, fragte der Zenturio, den Kopf leicht zur Seite geneigt.

Petrus verneinte.

“Und du bist es nicht selbst?

“Nein, nein, ich bin es nicht”, gab Petrus zur Antwort und schüttelte entschieden den Kopf.

“Kannst du das beweisen?”, fragte der Zenturio und neigte den Kopf zur anderen Seite, als gelte es, einen Gegenstand neugierig zu betrachten. “Du kannst es nicht”, fuhr Rattenschläger Petrus’ Verwirrung bemerkend fort. “Also bist auch du zu töten. Für alle Fälle.”

“Ich weiß nicht, wo er ist”, sagte Petrus mit flehend gefalteten Händen.

“Ziemlich aufgequollen”, sagte Rattenschläger und zeigte auf Petrus’ Gesicht.

Petrus begann unterwürfig zu lachen.

“Das ist deine letzte Chance”, sagte der Zenturio und nickte kurz. Einer der Soldaten zog umgehend das Schwert aus der Scheide.

Plötzlich begann Petrus zu strahlen.

“Er ist hier”, sagte Petrus auf den schlafenden Judas zeigend.

“Geht doch”, sagte Rattenschläger. “Du kannst gehen.”

Petrus sprang auf und lief, ohne sich umzuschauen, in Richtung Stadt.

“Bringt den anderen zu mir”, befahl der Zenturio.

Als man den noch nicht ganz erwachten Andreas dem Zenturio vor die Füße warf, hielt Rattenschläger Andreas als erstes den Mund zu und schnitt mit dem Messer ein Ohr ab.

“Kennst du den Mann dort?”, fragte Rattenschläger und wies in Richtung des flüchtenden Petrus, als Andreas stumm blieb.

“Dieser Mann ist mir niemand”, sagte Andreas, sich an Judas’ Worte erinnernd.

“Und weißt du den Grund unseres Kommens?”

Andreas bejahte. “Aber ich weiß nicht, wo er ist. Er ist diese Nacht von uns gegangen.”

“Dann werde ich dich töten müssen”, sprach K. drohend.

“Gut”, gab Andreas zur Antwort und senkte den Kopf.

Der Zenturio schaute Andreas interessiert an.

“Hör zu”, sagte Rattenschläger. “Mir ist doch völlig egal, wen ich verhafte. Nenne mir doch irgendeinen. Einen anderen. Und ich lasse dich laufen. Andernfalls müssen wir immer noch weiter suchen. Und finden schließlich auch den, den du schützen willst.”

Andreas hob den Kopf und sah Rattenschläger misstrauisch an.

“Ehrenwort”, sagte der Zenturio.

“Also gut. Es ist der da”, sagte Andreas und zeigte auf Judas.

“Geht doch”, sagte Rattenschläger, klopfte Andreas auf die Schulter und reichte Andreas einen Lappen. “Du kannst auch gehen. Und verbind dir dein Ohr.”
Andreas erhob sich, legte den Lappen aufs Ohr, warf einen Blick auf die schlafenden Brüder, ließ den Blick auf Judas ruhen, drehte sich um und ging fort.
Nun wurde Matthäus geweckt und zu Rattenschläger geführt. Rattenschläger quälte Matthäus erst gar nicht, sondern schüttelte bloß streng den Kopf.

“Warst du nicht einer von uns?!”

“Ja, das war ich”, sagte Matthäus.

“Warum hast du ihn nicht ergriffen? Du hättest die anderen retten können. Jetzt müsst ihr alle sterben.”

“Ja”, sagte Matthäus. “Aber wir sind nichts, und er ist alles. Töte uns.”

“Und du denkst, auf meine Frage geantwortet zu haben?”

“Ich habe auf die Frage geantwortet”, sagte Matthäus bestimmt.

“Und du bist bereit, dein unschuldiges Leben und die unschuldigen Leben deiner Männer zu opfern?”, sprach Rattenschläger mit der Hand auf die Schlafenden zeigend. “Bloß um den einen zu retten?”

“Um ihn zu retten”, sagte Matthäus.

“Aber du warst doch Zenturio und trägst Verantwortung für deine Leute?”

Matthäus senkte den Kopf und schwieg zur Antwort.

“Was ist für dich wichtiger, sein Leben oder das Leben der Leute, für die du Verantwortung trägst?”, fuhr Rattenschläger fort.

“Seines”, flüsterte Matthäus.

“Was?”

“Seines”, sprach Matthäus stockend.

“Seines”, sagte Rattenschläger nachdenklich. “Und bist du bereit, jeden so zu retten wie ihn?”

Matthäus verneinte.

“Also nehmen wir deine Leute mal aus”, sprach der Anführer und lächelte milde. “Wer bleibt dann noch übrig?”

“Judas”, flüsterte Matthäus.

“Wer?”

“Judas.”

“Und seinetwegen bist du bereit, dein Leben zu opfern?”

“Ja”, Matthäus richtete sich stolz auf, “Töte mich um seiner wegen.”

“Lass dir Zeit”, sagte Rattenschläger stirnrunzelnd. “Ich frage dich noch einmal, ob du das Leben der Leute, die dir anvertraut sind, gibst für das Leben des Judas?”

Matthäus schwieg.

“Schweige nicht!” Rattenschläger gab ein Zeichen und sofort entblößte einer der Kämpfer sein  Schwert und hielt es dem schlafenden Johannes an den Hals, “Du hast keine Zeit.”

Der Kämpfer hob das Schwert über den Kopf des Johannes.

“Nicht”, sagte Matthäus.

“Heißt das nein?”, fragte der Zenturio.

“Nein”, sagte Matthäus, “Nehmt ihn.”

“Du bist frei”, sagte Rattenschläger. “Ich sage deinen Leuten, dass du in der Stadt auf sie wartest.”

Matthäus nickte Rattenschläger zu, drehte sich um und lief Petrus und Andreas hinterher.

Nach Matthäus wurde Bartholomäus zu Rattenschläger geführt. Rattenschläger quälte Bartholomäus. Bartholomäus verriet Judas und kam frei. Und auch Thomas und Simon und beide Jakobs, Johannes, Thaddäus und Philipp verrieten Judas.

Und Judas schlief derweil weiter und wachte nicht auf.

Schließlich blieb allein Judas. Ungerührt schlafend. Nichts ahnend. Rattenschläger trat zu Judas, schaute ihn zärtlich an,  berührte ihn an der Schulter. Und weckte Judas.

Judas erwachte, blickte Rattenschläger in die Augen, schaute sich furchtsam um und verstand alles. Er setzte sich mit angewinkelten Beinen hin, umschlang mit den Armen die Knie, so wie Petrus und Andreas gesessen hatten, als sie sich am Anfang des Weges getroffen hatten.

Aber man ließ Judas nicht sitzen. Die Soldaten begannen Judas zu schlagen und riefen ihm zu, die Brüder hätten Judas verraten. Rattenschläger schaute auf den sich im Staub wälzenden Judas. Und Mitleid spiegelte sich in Rattenschlägers Gesicht.

Und der Zenturio geriet in Zweifel, ob es Judas sei, den sie suchten, obschon Rattenschläger gesagt worden war, dass sie genau zwölf seien. Rattenschläger ließ die Soldaten innehalten, ging zu Judas und setzte ihm den Fuß auf die Gurgel. Und der Anführer schaute in Judas’ klare Augen. Und auf Rattenschläger schaute aus Judas’ Augen der Dämon und schrie mit unmenschlicher Stimme. Judas’ Körper krümmte sich, Schleim lief ihm aus dem Mund und Judas verfiel in Zuckungen, auf den Boden gedrückt durch Rattenschlägers Fuß. Und Rattenschläger verlor jeden Zweifel, dass es er sei, der ihn in sich trägt.

Das war der zweite epileptische Anfall, der Judas ereilte, seit Judas mit ihm ging. Der zweite und letzte.

Niemand presste Judas einen Lappen zwischen die Zähne. Niemand stützte Judas den Kopf. Judas biss sich die Zunge ab und sagte von diesem Augenblick an kein einziges Wort mehr bis zum Tod.

6

Das nächtliche Gewitter ging über der großen Stadt nieder. Der Wind legte sich, drückende Nachdenklichkeit hing in der Luft. Gegen Mittag lichtete sich der Nebel, die Sonne beschien die drei auf dem Berg stehenden Kreuze, hing den Hängenden gegenüber und schien die an den Kreuzen hängenden Leute zu blenden. Aber keiner von ihnen regte sich.

Sein Kreuz stand in der Mitte. Er schien zu schlafen, auf einer großen Bettstatt ausgestreckt, und wollte sich nicht der durch seine geschlossenen Lider drängenden Sonne ergeben. Die Ermattung der letzten Tage, die nagenden Zweifel, die Schwere der Rolle, die er auf sich gewälzt hatte – all dies hatte sich in ihm angehäuft und ließ ihn nicht wachen. Er ruhte. Und es fehlte nur seine Mutter, die sich an seine Kopfseite setzte, ihm über die Haare strich und unsagbar Zärtliches flüsterte. Und sie hätte ihre Lippen an seine Stirn geführt, wäre gegangen und hätte ihn zurückgelassen. Und dann hätte sie oft bei ihm vorbeigeschaut, und sanft sein mattes  Gesicht gestreichelt.

Aber all das schien nur so. Tatsächlich war er gestorben. Sein Körper hing an dem Kreuz, sein Kopf hing willenlos auf der Brust, und ein schwarzer Rabe, der sich auf die Schulter des Kreuzes gesetzt hatte, berührte mit seinem Schnabel nachdenklich die tote Hand.

Sie standen unter ihm und schauten. Sie schauten. Tränen rannen aus ihren Augen und fielen ungerührt auf den Boden. Sie streckten einander die Hände hin und umarmten sich. Und lösten lange nicht die Umarmung.

 

Translated by Lars Nehrhoff

All rights reserved. No part of this document may be reproduced or transmitted in any form or by any means, electronic, mechanical, photocopying, recording, or otherwise, without prior written permission of Author.